03. Februar 2011
Widereinsetzung bei verspäteter Berufung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
I ZB 75/09
vom
3. Februar 2011

Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 3. Februar 2011 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. Bornkamm und die Richter Prof. Dr. Büscher, Dr. Schaffert, Dr. Koch und Dr. Löffler
beschlossen:

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss des 2. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 1. September 2009 aufgehoben.

Dem Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-gen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.

Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 2.360,80 €.

Gründe:

I. Das Landgericht hat den Beklagten zur Erstattung von Abmahnkosten verurteilt. Gegen dieses Urteil hat der Beklagte fristgerecht Berufung eingelegt. Die Frist zur Begründung der Berufung lief am 2. April 2009 ab. Der Beklagte hat mit einem am 6. April 2009 beim Berufungsgericht per Telefax eingegange-nen Antrag vom 30. März 2009 beantragt, die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern. Das Berufungsgericht hat diesem Antrag nicht ent-sprochen.

Der Beklagte hat seine Berufung mit einem am 4. Mai 2009 beim Beru-fungsgericht eingegangen Schriftsatz begründet und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung hat er vorgetragen, sein Pro-zessbevollmächtigter habe sich darauf verlassen, dass das Fristverlängerungs-gesuch vom 30. März 2009 rechtzeitig beim Berufungsgericht eingehen werde. Das Gesuch im vorliegenden Verfahren 2 U 15/09 sei gemeinsam mit entspre-chenden Gesuchen in den Parallelsachen 2 U 14/09 und 2 U 16/09 am 30. März 2009 diktiert, geschrieben, unterzeichnet und der Rechtsanwaltsfach-angestellten Frau K. übergeben worden, damit diese die Gesuche vorab per Telefax an das Berufungsgericht sende. Da Frau K. ihren Arbeitsplatz an diesem Tag wegen eines privaten Termins früher habe verlas-sen müssen, habe sie dem Prozessbevollmächtigten gegen 16.00 Uhr erklärt, dass nur eines der Gesuche (in der Sache 2 U 16/09) soeben gefaxt worden sei, ihr aber für die Versendung der weiteren Gesuche heute die Zeit fehle. Sie habe gefragt, ob sie diese bis zum Folgetag liegen lassen oder "verposten" und sogleich auf dem Heimweg in den Briefkasten einwerfen solle. Da bis zum Fristablauf noch hinreichend Zeit gewesen sei, habe der Prozessbevollmächtig-te angeordnet, die anderen Gesuche (in den Verfahren 2 U 14/09 und 2 U 15/09 ausnahmsweise nicht vorab per Telefax zu übersenden, sondern unmittelbar postfertig zu machen und sogleich auf dem Heimweg mit der weiteren Tagespost in den Briefkasten einzuwerfen. Frau K. habe die Ge- suche in diesen beiden Sachen in einen DIN-A4-Umschlag einkuvertiert, fran-kiert und sich auf direktem Weg zu dem Briefkasten in der Ludwigstraße 28 in München begeben. Sie habe gegen 16.10/16.15 Uhr die gesamte Tagespost und damit auch den an das Berufungsgericht adressierten Umschlag mit den beiden Verlängerungsgesuchen in den Briefkasten eingeworfen, der täglich um 17.45 Uhr geleert werde. Am 6. April 2009 habe sich auf telefonische Nachfrage der Rechtsanwaltsfachangestellten Frau B. bei der Geschäftsstelle des Beru- fungsgerichts herausgestellt, dass in den beiden Sachen 2 U 14/09 und 2 U 15/09 - anders als in der Sache 2 U 16/09 - keine Fristverlängerungsgesuche zu den Akten gelangt seien. Auf Anweisung des Prozessbevollmächtigten habe Frau B. die Schriftsätze nochmals ausgedruckt, zur Unterschrift vorge- legt und noch am selben Tag per Telefax und per Post an das Gericht übersandt.

Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag des Beklagten zurückgewiesen und seine Berufung verworfen. Mit der Rechtsbeschwerde ver-folgt der Beklagte seinen Wiedereinsetzungsantrag weiter.

II. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das Berufungsgericht ausge-führt:

Der Beklagte habe zwar die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung schlüssig vorgetragen. Es sei jedoch durch die eidesstattlichen Versicherungen der Kanzleiangestellten K. und B. sowie des Prozessbevollmächtig- ten des Beklagten nicht glaubhaft gemacht, dass am 30. März 2009 tatsächlich ein Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist diktiert, geschrie-ben, unterzeichnet und in den Briefkasten eingeworfen worden sei. Es sei schon nicht besonders wahrscheinlich, dass ausgerechnet das Kuvert mit den beiden nicht vorab per Telefax übersandten Gesuchen in den Verfahren 2 U 14/09 und 2 U 15/09 bei der Postübersendung verlorengegangen sein solle, während das vorab per Telefax übersandte und zugleich in den Briefkasten ein-geworfene Gesuch in der Sache 2 U 16/09 durch die Post ausgeliefert worden sei. Entscheidend sei jedoch, dass die Behauptung, es sei aus Zeitgründen darauf verzichtet worden, die Gesuche in den Sachen 2 U 14/09 und 2 U 15/09 vorab per Fax zu übersenden, nicht glaubhaft sei. Es sei auch nicht plausibel, wieso der Prozessbevollmächtigte sich dafür entschieden habe, auf das Faxen zu verzichten und die Gesuche gleich zur Post bringen zu lassen, obwohl die Begründungsfrist erst drei Tage später abgelaufen sei und die Gesuche daher problemlos noch am nächsten Tag hätten gefaxt und zur Post gegeben werden können.

III. Die gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist gemäß § 574 Abs. 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Der angefochtene Beschluss verletzt den Beklagten in seinen Verfahrensgrundrechten auf rechtliches Gehör und wir-kungsvollen Rechtsschutz. Diese gebieten es, den Zugang zu den Gerichten nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren. Dagegen verstößt die angefochtene Entscheidung. Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, der Beklagte habe den geltend ge-machten Wiedereinsetzungsgrund nicht glaubhaft gemacht. Bei zutreffender Beurteilung ist dem Beklagten die beantragte Wiedereinsetzung in die Versäu-mung der Berufungsbegründungsfrist zu gewähren.

1. Das Berufungsgericht ist im Ansatz mit Recht davon ausgegangen, dass der Beklagte die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist schlüssig vorge-tragen hat. Es hat zutreffend angenommen, dass der Prozessbevollmächtigte des Beklagten darauf vertrauen durfte, dass ein am 30. März 2009 (Montag) vor der letzten Tagesleerung in den Briefkasten eingeworfener, ausreichend fran-kierter und zutreffend adressierter Brief, der einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsrist enthält, vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist am 2. April 2009 (Donnerstag) beim Berufungsgericht eingeht und dieses sei-nem mit vorübergehender Arbeitsüberlastung begründeten Gesuch stattgibt.
Einer Prozesspartei dürfen Verzögerungen oder sonstige Fehler bei der Briefbeförderung oder Briefzustellung durch die Deutsche Post AG nicht als Verschulden zugerechnet werden. Sie darf vielmehr darauf vertrauen, dass die Postlaufzeiten eingehalten werden, die seitens der Deutschen Post AG für den Normalfall festgelegt werden. In ihrem Verantwortungsbereich liegt es allein, das Schriftstück so rechtzeitig und ordnungsgemäß aufzugeben, dass es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Post AG den Empfänger fristgerecht erreichen kann. Deshalb darf eine Partei grundsätzlich darauf vertrauen, dass werktags im Bundesgebiet aufgegebene Postsendungen am folgenden Werktag im Bundesgebiet ausgeliefert werden (BGH, Beschluss vom 9. Februar 2010 - XI ZB 34/09, FamRZ 2010, 636 Rn. 7 mwN).

2. Das Berufungsgericht ist ferner zutreffend davon ausgegangen, dass ein Vorbringen glaubhaft gemacht ist, wenn es überwiegend wahrscheinlich ist (BGH, Beschluss vom 9. Februar 1998 - II ZB 15/97, NJW 1998, 1870; Be-schluss vom 11. September 2003 - IX ZB 37/03, BGHZ 156, 139, 141 f.). Die Annahme des Berufungsgerichts, der Beklagte habe durch die eidesstattlichen Versicherungen seines Prozessbevollmächtigten und dessen Kanzleiangestell-ten K. und B. nicht glaubhaft gemacht, dass am 30. März 2009 ein Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist diktiert, geschrieben, unterzeichnet und in den Briefkasten eingeworfen wurde, hält einer rechtlichen Nachprüfung jedoch nicht stand. Die Rechtsbeschwerde macht zutreffend gel-tend, dass das Berufungsgericht keine Tatsachen festgestellt hat, die gegen die Richtigkeit des eidesstattlich versicherten Vortrags des Beklagten sprechen könnten.

aa) Das Berufungsgericht hat angenommen, es sei nicht besonders wahrscheinlich, dass ausgerechnet das Kuvert mit den beiden nicht vorab per Telefax übersandten Gesuchen in den Verfahren 2 U 14/09 und 2 U 15/09 bei der Postübersendung verlorengegangen sein solle, während das vorab per Te-lefax übersandte und zugleich in den Briefkasten eingeworfene Gesuch in der Sache 2 U 16/09 durch die Post ausgeliefert worden sei. Diese Zweifel des Be-rufungsgerichts sind nicht begründet.

Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Umstand, dass von zwei gleichzeitig in einen Briefkasten eingeworfenen Postsendungen die eine den Empfänger erreicht, es als nicht besonders wahrscheinlich erscheinen lassen sollte, dass die andere den Empfänger nicht erreicht. Dass die nach Darstellung des Be-klagten in Verlust geratene Sendung "ausgerechnet" die beiden Fristverlänge-rungsgesuche enthielt, die nicht vorab per Telefax übersandt worden waren, rechtfertigt es nicht, den an Eides statt versicherten Angaben des Prozessbe-vollmächtigten des Beklagten und seiner beiden Kanzleiangestellten zu miss-trauen. Es gibt, wie die Rechtsbeschwerde zutreffend geltend macht, keinen Erfahrungssatz, dass Briefe, die zuvor gefaxt worden sind, eher oder weniger oft verlorengehen als solche, die nicht zuvor gefaxt worden sind.

bb) Das Berufungsgericht hat es als entscheidend erachtet, dass die Be-hauptung des Beklagten, es sei aus Zeitgründen darauf verzichtet worden, die Gesuche in den Sachen 2 U 14/09 und 2 U 15/09 vorab per Fax zu übersen-den, nicht glaubhaft sei. Es hat angenommen, es sei nicht ersichtlich, dass das behauptete "Verposten" gegenüber einem sofortigen Faxen eine nennenswerte Zeitersparnis gebracht haben könnte. Dies gelte auch unter Berücksichtigung der Zeitangaben des Prozessbevollmächtigten des Beklagten, wonach sein Faxgerät für die Übertragung einer Seite 14 Sekunden benötige (die Verlänge-rungsgesuche hatten jeweils zwei Seiten), dagegen der Wortwechsel zwischen ihm und Frau K. 20 bis 30 Sekunden und das anschließende Postfertig-Machen und Frankieren der beiden Kuverts etwa eine Minute gedauert ha-be.
Selbst wenn das behauptete Postfertig-Machen gegenüber einem sofor-tigen Faxen bei objektiver Betrachtung keine nennenswerte Zeitersparnis ge-bracht haben sollte, spräche dies, wie die Rechtsbeschwerde mit Recht geltend macht, nicht dagegen, dass die Rechtsanwaltsfachangestellte K. mit Billigung des Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der Absicht der Zeiter-sparnis in der behaupteten und eidesstattlich versicherten Weise vorgegangen ist. Die Rechtsbeschwerde weist zudem zutreffend darauf hin, dass die Tele-faxanschlüsse von Gerichten insbesondere nachmittags um die Büroschlusszei-ten herum häufig bereits durch anderweitige Eingänge von Schriftsätzen belegt sind und oftmals lange Zeitverzögerungen durch Wahlwiederholungen anfallen, so dass bei einer Faxversendung eine sofortige störungsfreie Übermittlung nicht gewährleistet gewesen wäre.

cc) Das Berufungsgericht hat gemeint, es sei auch nicht plausibel, wieso der Prozessbevollmächtigte sich dafür entschieden habe, auf den Faxversand zu verzichten und die Gesuche gleich zur Post bringen zu lassen, obwohl die Begründungsfrist erst drei Tage später abgelaufen sei und das Verlängerungsgesuch daher problemlos noch am nächsten Tag hätte gefaxt und zur Post gegeben werden können.

Das Berufungsgericht berücksichtigt nicht hinreichend, dass nach dem Vorbringen des Beklagten sein Prozessbevollmächtigter nur deshalb auf die Faxversendung des Fristverlängerungsantrags verzichtet hat, weil die Beru-fungsbegründungsfrist erst drei Tage später ablief und eine Fristversäumung daher nicht zu befürchten war. Unter diesen Umständen erscheint es nachvoll-ziehbar, dass der Prozessbevollmächtigte des Beklagten sich mit Rücksicht darauf, dass seine Kanzleiangestellte unter Zeitdruck stand, mit dem von ihr vorgeschlagenen Postversand einverstanden erklärt und nicht auf einer Über-mittlung per Telefax bestanden hat.

3. Der Senat kann über den Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO selbst entscheiden, da es keiner weiteren Tatsachenfeststel-lungen bedarf. Danach ist der fristgerecht gestellte Wiedereinsetzungsantrag begründet. Die Berufungsbegründung als versäumte Rechtshandlung ist mit dem am 4. Mai 2009 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz recht-zeitig innerhalb der insoweit maßgeblichen Frist von einem Monat (§ 234 Abs. 1 Satz 2, § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO) nachgeholt worden.

Bornkamm Büscher Schaffert
Koch Löffler

Vorinstanzen:
LG Stuttgart, Entscheidung vom 27.01.2009 - 41 O 101/08 KfH -
OLG Stuttgart, Entscheidung vom 01.09.2009 - 2 U 15/09 -